Der Auftrag

Ein Künstler, ein Fotograf, erhält den Auftrag. Bilder zu Christoph Ransmayrs Roman “Die letzte Welt” zu erfinden. Thematisch hat er voilkommen freie Hand. Ob sich die Bilder mit dem Roman beschäftigen oder mit seinem stets unsichtbar bleibenden Kern, dem römischen Schriftsteller Ovid, ob sie sich mit Ovids berühmtesten Werk, den Metamorphosen, auseinandersetzen oder dessen Wirkungen in den bildenden und darstellenden Künsten nachgehen, ob Verwandlungen selbst das Thema sein werden oder Verwandlungen von Welt in oder durch Fotografie – dem Auftraggeber ist das alles gleich gültig. In der Vielzahl der beschreitbaren Wege, die dem Fotografen in der Auseinandersetzung mit dem Thema offen stehen, sieht er gerade den hauptsächlichen Reiz seines Vorschlages. Er glaubt, dem Künstler einen nahezu unbegrenzten Möglichkeitsraum angeboten zu haben.
Nach recht kurzer Zeit macht der Fotograf allerdings dem Auftraggeber klar, dass zunächst eine Reise zu unternehmen ist. Er erzählt von Steilküsten und im Meer versunkenen Bunkern, von Geiern und Trümmerstädten, von Hafenmolen und blattlosem Dornengestrüpp. Das Konzept der Arbeit ist bereits fertig: ein 4 bis 5 Meter langes Tableau bestehend aus 15 Bilder, entsprechend den 15 Kapiteln des Ransmayr’schen Romans oder, was das Gleiche ist, der Ovid’schen Metamorphosen. Alle Bilder gleich hoch aber von unterschiedlicher Breite und auf unterschiedlich tiefe Rahmen gespannt, so dass sich eine Art Relief ergeben wird, eine breite dreidimensionale rhythmische Linie. Ebenso sind bereits Motive für das Tableau entstanden, wenn auch größtenteils nur im Kopf des Künstlers. Eine Vielzahl der dazugehörenden Bilder muss noch gemacht werden. Aus diesem Grund: die Reise, auf die der Auftraggeber den Künstler zu begleiten hat. Das ist eine unmittelbare Konsequenz seines Auftrages. Sie wird ihn unentwirrbar mit seinem Auftrag verwickeln.

Doch worum geht es in dem Roman?

Der beginnt ebenfalls mit einer Reise. Cotta – wer Cotta eigentlich ist, wird nicht recht deutlich – schifft sich in Rom ein, um nach Tomi zu fahren, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, damals am äußersten Rand des römischen Herrschaftsbereichs gelegen und damit am Ende der bekannten Welt. Er sucht dort nach Publius Naso, bekannter unter dem Namen “Ovid”, einen dorthin verbannten Schriftsteller, vordem in Rom eine bekannte Größe, ein Star, persönlicher Bekannter des Kaisers Augustus und Lieblingsdichter der oberen Gesellschaftsschichten. Die Gründe für Nasos Verbannung liegen im Dunkeln. Ebenso sind auch die Gründe für Cottas Reise unklar. Was will er in Tomi? Will er neue Nachrichten über den Verbannten nach Rom bringen? Will er an der Neugierde nach dem Verbleib und Ergehen des einst so hoch Stehenden und nun so tief Gefallenen verdienen? Ist Cotta ein Journalist, sogar ein Sensationsjournalist? In der an zerklüftete Felswände gedrückten, von Wind und Wetter gezeichneten, mit Rost überzogenen und von Gestrüpp überwucherten Bergbaustadt trifft Cotta auf Bewohner, die allesamt aus Nasos Geschichten entsprungen sind: den Seiler Lycaon, der nachts mit einem Wolfsvlies ins Gebirge eilt, die schöne Prostituierte Echo, deren Haut von einer über ihren Körper wandernden Schuppenflechte verunstaltet wird, die taubstumme Teppichknüpferin Ariadne, die Kolonialwarenhändlerin Fama und deren fallsüchtigen Sohn Battus, den Filmvorführer Cyparis. Außerdem stößt er auf Bruchstücke von Nasos Werken, in Felsblöcke gemeißelt oder Stofffahnen gepinselt. Naso selbst findet er jedoch nicht. Je länger Cotta in Tomi bleibt, um so mehr entpuppt sich seine Reise als Fahrt ins Nichts, ins Nirgendwo. Dennoch verlässt er Tomi nicht, er bleibt, und während sich um ihm herum immer rasanter die Landschaft verändert, Pflanzen die Stadt überwuchern, Erdrutsche und Steinschläge das Gebirge verformen und neue Moränen und Mure bilden, entgleiten Cotta nicht nur Ziel und Sinn seiner Reise, er verliert auch mehr und mehr die Orientierung, bis er schließlich durch ihm unbekannt gewordene Gegenden stolpert. Der Unterschied zwischen der erlebten Wirklichkeit Cottas und der erzählten und damit erfundenen Wirklichkeit Ovids löst sich auf. Eine erzählte Wirklichkeit, die Welt der Ovid’schen Metamorphosen, ist Realität geworden. Diese Realität wiederum, die von Cotta erlebte Welt, ist die erzählte Erfindung Christoph Ransmayrs. Und beide Erfindungen verweben sich ineinander: Zum Schluss ist sich Cotta sicher, im Gebirge ein von Naso beschriebenes Fähnchen mit seinem eigenen Namen zu finden.

Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnung mehr. (Christoph Ransmayr: Die letzte Welt, 287)

Das Vorhandene verschwinden lassen

Das Vorhandene verschwinden lassenEin Foto gilt als Abbildung der Realität. Täglich hat es millionenfach diesen einen Zweck. Es dient als Dokument des Vorhandenen, als Beweis des genau da genau so Vorgefundenen, als Beleg seiner Existenz. Das Foto, so lautet die Vorstellung, hält einen bestimmten Wirklichkeitsmoment fest, es fiert ihn ein, gießt ihn in Zement.

Ein erster Schritt zur Abstraktion ist, diese zentrale Funktion des Fotos zu stören. Es soll nicht abbilden, was da ist, nicht festhalten, was vorgefunden wird, nicht in Erstarrung bannen, was vorhanden ist. Es soll etwas zeigen, was nicht da ist, etwas, das man so nicht sehen kann.

Ein Weg, etwas zu zeigen, was man so nicht sehen kann, ist, etwas wegzulassen, was man sieht. Zum Beispiel Bewegungen. Nun lässt ein Foto Bewegungen nicht einfach weg, es friert sie lediglich ein. Das ist bekannt. Manchmal werden sie unscharf. Das Foto war nicht in der Lage, sie in der gewohnten Genauigkeit festzuhalten. Der sich bewegende Gegenstand wird gewissermaßen gedehnt. Er nimmt mehr Raum ein, als ihm eigentlich zusteht. Auch das ist bekannt. Nimmt man jedoch einen schwach lichtempfindlichen Film, so wenig lichtempfindlich wie möglich, und eine lange Belichtungszeit, so sorgt das dafür, dass ein sich bewegender Gegenstand auf dem Foto gar nicht erst erscheint. Er existiert nicht. Vorbeigehende Personen, vorbeifahrende Autos sind nicht vorhanden. Eine belebte Straße ist menschenleer. Ein sich ständig bewegender Gegenstand wie das Meer erstarrt zu einer planen Fläche. Das wäre ein Foto des Meeres, wie es das Auge nicht sehen kann. Man könnte sogar versuchen, es mit Hilfe von Tageszeit und Sonnenstand, je nach Wetterlage und Witterungsverhältnissen, mit bestimmter Belichtungszeit und Brennweite so zu fotografieren, dass es mit dem Himmel verschwimmt. Eine Horizontlinie wäre nicht mehr erkennbar, Himmel und Meer würden eins.

Um ein solches Foto des Meeres zu machen, fahren der Künstler und sein Auftraggeber an die Südküste Frankreichs.

Das verlorene Motiv

Das verschwundene MotivMachtlos ist die Fotografie, wenn die Dinge in der Wirklichkeit verloren gehen. Am Strand von Saintes Maries de la Mer am Südende der Camargue soll ein Bunker im Meer liegen. Ursprünglich direkt auf den Strand gebaut ist er ins Meer gerutscht in den vergangenen Jahrzehnten, in denen das Meer das Land abtrug. Jetzt liegt er mitten im Wasser. Das ist das erste Motiv. Der Künstler hat es im Vorfeld ausführlich beschrieben. Nur: der Bunker ist nicht mehr da. Hinter dem Strand, in den Sumpfwiesen liegen sie noch, die eingesunkenen Überbleibsel vermutlich deutscher Befestigungsanlangen aus dem 2. Weltkrieg. Aber der im Meer ist verschwunden. Immer wieder fahren der Künstler und sein Auftraggeber den Strand an, von Saintes-Maries-de-la-Mer aus nach Westen bis zur Mündung der kleinen Rhône: nichts.

Die Beschreibungen des Künstlers haben im Auftraggeber ein klares Bild des geplanten Bildes entstehen lassen. Der Himmel, das Meer und der Bunker sind reduziert auf abstrakte geometrische Formen: eine Fläche und ein mehreckiger Körper. Der einheitliche graue Hintergrund, ob mehr Ebene oder ob mehr Fläche das darf nach Ansicht der Auftraggebers offen bleiben, ist im unteren Teil heller, weil dort an manchen Stellen von weißlichen Schlieren durchzogen, im oberen Bereich dunkler, grauer in grauer. Im unteren Drittel, nach links aus der Mitte gerückt, ein tiefschwarzes, teilweise regelmäßig rechteckiges, oben rechts aber unregelmäßiges Mehreck. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um einen Körper handelt, einen Quader, der nach vorne oder nach unten – je nach dem noch vorhandenen Ausmaß der Tiefenillusion – in die graue Fläche abgesunken ist, und zwar mit dem vorderen oder anders gesagt: unteren linken Ende mehr als mit dem unteren rechten. Daher die Vieleckigkeit. Man muss einräumen: Seine Vorstellung ist sehr genau, Spielraum gibt es da kaum. Nicht einen Moment fragt er sich, inwieweit seine Vorstellung mit dem Motiv übereinstimmt, das der Künstler vor Augen hat. Für ihn ist seine Vorstellung das Motiv.

Nachdem der Auftraggeber die Örtlichkeiten gesehen hat, wird er unsicher. Er fürchtet, dass das tatsächliche Bild mit demjenigen, das er im Kopf hat, kaum etwas zu tun gehabt hätte. Er zweifelt sogar, ob es überhaupt ähnlich gewesen wäre. Er bedauert daher nicht sehr, dass es nicht zustande kommen wird. Er weiß ja, wie es ausgesehen hätte. Und so gefiel es ihm recht gut. Unverkennbar hat der Künstler eine ebenso deutliche Vorstellung des geplanten Bildes. Unbeantwortbar bleibt allerdings, ob die beiden Vorstellungen übereinstimmen, ob sie überhaupt ähnlich sind.

Exkurs I: Der Obere der Vögel und die Braut des Windes

Im Sommer 1937 zog Max Ernst mit seiner damaligen Geliebten, der 20jährigen Malerin Leonora Carrington, nach Südfrankreich. Das Leben in Paris in der Rue Jacob 12 war schwierig geworden. Immer wieder kam es zu peinlichen Auftritten mit Noch-Ehefrau Marie-Berthe Aurenche. Ihre einflussreiche Familie, ihr Vater war Polizeipräfekt, versuchte, Max Ernst gesellschaftlich unmöglich zu machen und geschäftlich zu ruinieren. Er verkaufte kaum noch Bilder. Ebenso war keine Unterstützung von Leonoras Seite zu erwarten. Ihre sehr begüterte Familie war über die Verbindung entsetzt und stellte jegliche Finanzierung ein. Leonoras Vater erstattete Anzeige gegen Max Ernst wegen Pornographie. Das Paar trat den Rückzug an.

Loplop und die Windsbraut - das Haus (Südwestansicht)Zunächst mieteten sie sich ein Dachzimmer im Hôtel et Café du Centre in Saint-Martin d’Ardèche. Im August 1938 kaufte Leonora Carrington ein altes, baufälliges Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert am Südhang des Ardèche-Tales mit 260 Hektar Land. In den folgenden knapp zwei Jahren bauten die Beiden das Haus in eine von Schutzgeistern und Hausgespenstern, von Fabel- und Mischwesen bevölkerte und behütete Schutzburg um. Der Raum neben dem Treppenaufgang wurde in eine Art Loggia umgewandelt, darüber ein Balkon eingerichtet. Max arbeitete an einem großen Flachrelief an der Südwand, schuf freistehende Plastiken für den Garten, stattete die Loggia mit Fresken aus und kombinierte sie mit Wandmasken. Für den Wohnraum begann er ein Ölgemälde mit dem Titel “Un peu de calme” (Ein bisschen Ruhe), mit 1,70m x 3,25m eines der größten, das er je gemacht hat. Leonora bemalte Schränke, Türen, Wände. Die von ihr modellierten Pferdeköpfe wurden als Armstützen in eine Gartenbank integriert. Der Fußboden des Schlafzimmers erhielt ein Fledermausmosaik, das Geländer des Treppenaufgangs zur Loggia mehrere kriechende oder liegende Mischwesen. Manche der Plastiken und Fresken sind mittlerweile verschwunden, von den Nachbesitzern abgebaut und mehr oder weniger erfolgreich zu Geld gemacht. Aber das große Flachrelief ist nach wie vor vorhanden, und die Fresken und Masken an den Wänden der Loggia.

Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand + Treppe Loggia

Über die Geschichte des Hauses, über den Verbleib der Skulpturen, über die Versuche der Nachbesitzer, die ihnen zugefallenen Kunstwerke zu Geld zu machen, darüber ist Einiges geschrieben wurden. Kaum etwas findet sich über die Skulpturen selbst. Wen stellt das Flachrelief der Südwand eigentlich dar? Was ist die Bedeutung der zwei, nein drei Figuren? Wozu hat Max diese neuen Mischwesen erfunden? Welche Charketereigenschaften hat er hier gemischt, welche Metaphern, welche Symbole, welche Mythen? In den Jahren 1938 und 1939 wurden zwei Erzählungen Leonoras in Paris publiziert. Max hatte jeweils einige Collagen dazu gemacht. 1938 “La maison de peur” (Das Haus der Angst) und 1939 “La dame ovale” (Die ovale Dame). Zu “La maison de peur” schrieb Max außerdem ein Vorwort mit den Titel “Loplop stellt die Windsbraut vor”, ein Text voller erotischer Glückseligkeit. Das Vogelwesen Loplop, der Obere der Vögel, begann Max Ernst in den Jahren zwischen 1929 und 1931 in einer ganzen Reihe von Bildern zu verwenden. Diese Kunstfigur, eine Art alter ego, erlaubte es ihm, sich gleichzeitig von seinem Werk zu distanzieren als es auch zu präsentieren. Denselben Kunstgriff benutzt er auch in dem einleitenden Text: Vorgestellt wird ein Mann, vielleicht ist es Loplop, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall hellt er die Landschaft auf, denn “wilde Liebkosungen” haben auf seinem “perlumutternen Leib ihre leuchtenden Spuren hinterlassen”. Dieser Mann hat eine Freundin, die Windsbraut, eine Freundin der Pferde. Sie ist aus dem Holz “ihres intensiven Lebens, ihres Geheimnisses, ihrer Poesie” geschnitzt. Loplop soll auch Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand: Loplop auf dem großen Relief dargestellt sein. Aber wer ist es? Der stampfende Gnom mit Froschmaul, der beschwörend die reichlich befiederten Flügelarme hebt? Früher einmal muss ein Blatt sein Gemächt bedeckt haben, bevor es ihm zu heutiger Geschlechtslosigkeit wegrestauriert wurde. Oder die große Figur mit dem Vogelkopf, die einen Stützpfeiler des Hauses als Körper nutzt, die Arme drohend und mächtig in den Himmel gereckt? Oder stellt hier Loplop Loplop vor, der große den kleinen, der mächtige den geilen, der beschützende den unterwandernden? Und wer oder was ist die andere Figur? Ein weibliches Wesen, offenbar, mit einem langen Hals und einem Kopf, der ebenfalls ein Vogelkopf sein könnte, einem Emu ähnlich oder einem Strauss. Bedeckt ist der Kopf mit einem Fisch. Die eine Hand ist abgewinckelt, die andere trägt ein kleines Monster. Es scheint sogar so, dass sich der Daumen der Hand in ein Monster verwandelt hat, ein Monster, das noch klein ist, aber noch sehr viel größer werden kann.
Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand: Mann und Frau

Drei Mal blieb Leonora in Saint-Martin allein zurück. Oder soll man neutraler sagen: das Paar wurde getrennt? Oder muss man sogar sagen: Max hat Leonora verlassen? Im Winter 1937 fuhr Max zurück nach Paris, aus “geschlechtlicher Verpflichtung”, wie es Leonora in einer ihrer Erzählungen nennt, aber vielleicht auch oder vielleicht eher (wir sind Max wohlgesonnen!), um eine Ausstellung der Surrealisten zu organiseren. Leonora rechnete nicht mit seiner Wiederkehr. Aber Max kehrte zurück. Im Frühjahr. Und er hatte sich von seiner Frau getrennt.

Nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland im September 1939 wurden in Frankreich lebende Deutsche als “feindliche Ausländer” betrachtet und interniert. Max Ernst wurde sofort verhaftet und kam in das Lager Les Milles in der Nähe von Aix-en-Provence. Im Dezember 1939 wurde er jedoch entlassen, nachdem sein Freund Paul Eluard an den französischen Präsidenten geschrieben und sich für ihn verbürgt hatte.

Die dritte Trennung hat die Beziehung schließlich nicht überlebt. Im Mai 1940 begann der deutsche Westfeldzug. Frankreich wurde überrannt. Im Süden setzte die nächste Verhaftungswelle ein. Max wurde als Nazispion denunziert, kam wieder nach Les Milles, bestieg den “Geisterzug”, den die Exilanten unter den Lagerinsassen dem Lagerkommandanten abgerungen hatten und der sie vor den Deutschen in Sicherheit bringen sollte, in Richtung Nimes, konnte von dort fliehen und kehrte im Herbst 1940 nach Saint-Martin zurück. Aber Leonora war nicht mehr da. Max wurde erkannt, verhaftet, erneut nach Les Milles gebracht, floh wieder. Diese Flucht gelang und brachte ihn über Aiguèze, Marseille, Lissabon mit der Hilfe Peggy Guggenheims nach New York.

Loplop und die Windsbraut - das Haus (Westansicht)Im Juni 1940 übergab, “verkaufen” kann man nicht so richtig sagen, Leonora das Haus an den Kellner des Gasthofes, in dem sie und Max sich 1937 eingemietet hatten, und floh in Panik und Verzeiflung, in der Angst vor den heranrückenden Deutschen von zwei Freunden unterstützt, Richtung Spanien. Der Einfluss ihrer Familie verschaffte ihr ein Einreisevisum und sie gelangte über Barcelona nach Madrid. Dort wurde sie auf Betreiben ihrer Eltern in eine private Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Genesung organisierte sie mit der Hilfe des mexikanischen Schriftstellers Renato Leduc, mit dem sie auch kurz verheiratet war, ihre endgültige Flucht sowohl aus Europa als auch aus dem Einflußbreich der Eltern.

Sète

Die Mole von Séte soll das erste Bild werden. Die Kamera in einem kantigen, fast quadratischen Holzkoffer, Stativ, Kassetten bestückt mit Fotopapier von 20 x 25 Zentimetern, alles ist aufzubauen bevor die Sonne durchbricht, morgens um halb acht. Vorher stand sie schon kreisrund und rotorange über dem Horizont und verschwand dann Stück für Stück in einer Wolkendecke. Das verminderte Licht ist günstig. Vielleicht lässt sich die für das Auge gut erkennbar Horizontlinie, Séte 1die Himmel und Wasser trennt, zum Verschwinden bringen. Umso mehr als dasselbe Bild noch einmal mit einem Blaufilter belichtet wird. Außerdem werden eine lange Belichtungszeit und lichtunempfindliches Fotopapier gewählt. Das wird die Bewegung des Meeres einfrieren. Entstehen soll eine einheitliche grau melierte Fläche. In diese Fläche ragt schwarz und von würfelförmigen Wellenbrecher zerklüftet die Mole von Séte, die dann keine Mole mehr ist, sondern ein strukturiertes, kantiges Objekt, der Kontrast in der Ruhe der grauen Fläche. So der Plan, das ist die Vorstellung. Ob es so werden wird, ist noch ungewiss. Denn noch bilden sich für dem Auftraggeber unter dem Kameratuch das Blaugrau des Meeres und das Graublau des Himmels, das Gelbblau der Steine und das Grün der Leuchtboje deutlich auf der Fotoplatte ab, umgekehrt zwar, auf dem Kopf stehend, aber dennoch klar unterscheidbar. Ob und wie sich diese Abbildung in die beschreibene Vorstellung verwandeln lässt, muss dem handwerklichen Können des Künstlers überlassen werden. Dem Auftraggeber ist das unverständlich. Gewiss ist nur eines: die Farben werden verschwinden. Der Künstler besteht auf Schwarzweiß. Da lässt er nicht mit sich diskutieren. Schade um die Gaublaus und Blaugraus, die sich beruhigend auf 20 x 25 Zentimeter vor dem Auftraggeber ausbreiten und die ihm wesentlich für das Motiv zu sein scheinen. Farben will der Künstler nicht. Séte 2Farben behindern die Abstraktion. Sie sind der hautsächliche Anker der Gegenständlichkeit. Sie ketten das Foto an die Realität, die Abbildung an das Abgebildete. Der Auftraggeber möge sich bitte die 15 Bilder der Gesamtkomposition als eine Abfolge von Farbfotos vorstellen. Das reduziere das ganze Werk zu einem aufgereiten Diavortrag. Interpretationsspielräume, Deutungsmöglichkeiten, Assoziationen, Bezugnahmen, Mehrschichtigkeiten, all das ginge verloren. Die Gegenständlichkeit der Objekte, das ist ein Meer, das ist ein Himmel, das ist ein von Menschen aufgeschütteter Damm, diese Gegenständlichkeit dominierte alles. Das sieht der Auftraggeber betroffen ein.

Paul Valérys GrabAuf dem Friedhof von Sète, einer der wenigen, auf dem Gräber Meerblick haben, hat Paul Valéry als einziger eine Bank, so wie Hölderlin auf seinem Friedhof in Tübingen als einziger eine Bank hat. Vor diesem wie jenem Grab darf man sich setzen.

O récompense après une pensée
Qu’un long regard sur le calme de dieux.

steht auf dem Grab: Der Lohn eines Gedankens ist wie ein langer Blick auf die Ruhe der Götter. Lange sitzen der Künstler und sein Auftraggeber bei Paul, so lange, bis aus dem gehämmerten Meer ein wie Krepppapier gekräuseltes geworden ist.

Das Buch der Steine

Für seine Motive lässt sich der Künstler von Ransmayrs sprachlichen Bildern anregen. Zum Beispiel beschäftigt ihn das Buch der Steine.

Buch der Steine - ArdècheEcho, die Schöne, deren Körper aber von einer über ihn wandernden Schuppenflechte entstellt wird, die als schwachsinnig gilt, da da sie auf Fragen nicht antwortet, sondern sie wiederholt, die den Eisenerzkochern und Viehhirten als Hure dient, die sie daraufhin mit Naturalien beschenken, die sie jedoch verfaulen lässt, Echo ist die erste, die Cotta Näheres von Naso erzählt. Auf ihren Wanderungen durch das Gebirge erzählt sie Cotta Nasos Geschichten, von denen er behauptete, sie aus Flammen, Glut und Aschen herauszulesen. Echo nannte diese Geschichten das Buch der Steine, denn immer, von unglaublich harten Schicksalsschlägen getroffen und in die furchtbaren Folgen ihrer Handlungen tragisch verstrickt, immer verwandelten sich die Menschen in Steine.

Buch der Steine - Mies van der Rohe Pavillon, BarcelonaWas wäre ein mögliches Motiv für das Buch der Steine? Etwa die rund gemahlenen Steine in der Ardèche, die schon Max Ernst faszinierten, so dass er sie mit nach Hause nahm und bemalte. Oder der mit Kieseln gefüllte Teich vor dem von Mies van der Rohe erbauten Pavillion in Barcelona? Oder die Steilwand einer Schlucht, ein Schnitt durch die Geschichte der Erde, ein geologisches Tagebuch?

Der Künstler fotografiert stattdessen eine Geröllhalde, einen Erdrutsch, wild durcheinandergeworfene Brocken, die einen steilen Abhang hintergestürzt sind. Nachdem sie Kamera und Stativ über Tymiansträucher und vertrocknete Äste geschleppt haben, sieht der Auftraggeber auf der Fotoplatte ein Gewirr grauer Flächen. Die kleine Struktur unterschiedlicher Brauns im unteren Teil der linken Bildhälfte, für das Auge eine aufheiternde Abwechslung, auch sie wird noch verschwinden. “Wir machen keine Reduplikation der Wirklichkeit”, stellt der Künstler apodiktisch fest, nachdem der Auftraggeber das Braun zu einem wesentlichen Bildelement aufzuwerten versucht. Die Vorschläge des Auftraggebers neigen offenbar zum Konkreten, zum Anschaulichen, zum bloß Illustrativen. Damit degradiert er das Tableau zu einem Kommentar, er macht aus ihm lediglich eine Bebilderung des Textes. So kann aus dem Tableau kein dem Romantext gleichwertiges Gegenüber werden, kein Dialog zwischen Bild und Text stattfinden, kein Austausch, der zu einer gegenseitigen Erweiterung, Bereicherung, Erläuterung, Erhellung beider Werke führt. Gegen diese beständige Inflitration des Auftraggebers, gegen seinen Hang zum Konkreten und Dekorativen muss sich der Künstler mit Abstraktion wehren, mit Abkehr vom bloß oberflächlich Ästhetischen, vom einfach sinnlich Schönen. Ein schwere Arbeit. Er darf sich seine Motive nicht trivialisieren und verwässern, nicht seichter und hübscher machen lassen.

Die Bucht der Balustraden

Die Bucht der Ballustraden 1Es gibt auch das Umgekehrte: ein Motiv, das der Künstler immer schon mal fotografieren wollte, hat plötzlich eine Funktion bekommen und kann deshalb in ein Bild umgesetzt werden. Die Steilkünste zwischen Cerbère und Portbou soll die Bucht der Balustraden werden. Hier, wo die Pyrenäen ins Mittelmeer stürzen, verschieden steil aufgrichtete Schieferwände schräg und zersplitternd in blaugrünes Wasser fallen, Fluchtweg so vieler Emmigranten, die an dieser Stelle zu Fuß oder per Eisenbahn den Übertritt aus dem unsicheren Frankreich ins nicht sehr viel sicherere Spanien versuchten und Endpunkt für einen von ihnen, Walter Benjamin, der sich in Portbou das Leben nahm, hier sitzt jetzt der Fotograf, misst Lichtstärken und versucht, den gleichen Helligkeiten und damit gleichen Grauwerten der Licht reflektierenden Schieferwände einerseits und des strahlend blauen Himmels andererseits durch einen Orangefilter abzuhelfen, der die Kontraste verstärken soll. Still ist diese Bucht der Balustraden, nicht tosend laut wie die Ransmayrs, in der Echo die Worte vom Mund gerissen werden, nur ein leichter Wind geht. Aber selbst der kann das Bild gefährden, denn die ausgezogene Zieharmonika des Kamerakanals ist anfällig für jeden Windstoß. Der Fotgraf wartet daher auf ein Windloch. Ob es lang genug war, wird er wiederum erst im Rotlicht der Dunkelkammer sehen.

Die Fahnen von Trachila

Die Fahnen von Trachila 1Als Cotta einige Wochen nach seiner Ankunft sich auf den Weg nach Trachila macht, Nasos letzten Zufluchtsort im Gebirge oberhalb von Tomi, eine Ansammlung fünf oder sechs verfallener Gehöfte, stößt er auf eine Vielzahl von Wimpeln und Fahnen, Stofffetzen eingewoben in Steinhaufen von unterschiedlicher Höhe, zerschnittene Kleider in allen möglichen Farben, ausgebleicht von der Sonne, ausgefranst durch den beständig an ihnen zerrenden Wind und – allesamt beschrieben. Auf einem von ihnen liest Cotta jenen Satz, der die Kernbotschaft des Ransmayrschen Romans und der Ovidschen Metamorphosen zu sein scheint, der in wenigen Worten aber wohl auch den Lauf aller Dinge zusammenfasst: „Keinem bleibt seine Gestalt“.

Das folgende Motiv soll den Fahnen von Trachila gegenübergestellt werden, vom Auftraggeber und vom Künstler in gemeinsamer Arbeit entwickelt: ein Zaun aus Draht, am besten Stacheldraht, als Absperrung dienend, am besten einer Müllhalde, daran Plastiktüten, am besten viele, von Dornen und Wind zerrissen, am besten wild flatternd.

Früher gab es im Süden solche Müllhalden recht häufig, der Künstler erinnert sich an eine am südwestlichen Ortsausgang von Montpellier. Die Durchsetzung von Richtlinien, vielleicht sogar EU-weiter, hat sie fast vollständig verschwinden lassen. Auftraggeber und Künstler suchen daher nach Ersatz.

Der erste brauchbare ist eine Plastikfolie in einem Baum in der Nähe einer Brücke über die Ardèche, allerdings direkt an der Straße. Der Künstler weiß von Vorfällen zu berichten, bei denen am Straßenrand herumturnende Fotografen, vor allem wenn mit großen Kameras hantierend, was ja in diesem Fall zutrifft, von der Gendarmerie wegen Verkehrsbehinderung verhaftet worden sind. Das gibt der Sache eine gewisse Brisanz. Vorher wird daher die Kamera zusammen gebaut und aufs Stativ geschraubt, dann etwa 100 m die Straße hingeschleppt. Bildausschnitt einrichten, schnell scharf stellen, eine Sekunde Belichtung dürfte reichen, die schützende Abdeckplatte aus der Fotokassette heraus ziehen, eine Lücke in der vorbeipreschenden Autokolonne abwarten, die Druckwelle würde die Kamera bewegen und damit das Bild verwackeln, ein Lastwagen könnte sie sogar samt Stativ zum Kippen bringen, abdrücken, Abdeckplatte wieder einschieben, Kamera packen und zurück – und natürlich hoffen, alles richtig gemacht zu haben: keinen Lichteinfall erzeugt beim Herausziehen der Abdeckplatte etwa oder den Wind richtig eingeschätzt, kein Fehler bei der Berechnung der Belichtungszeit.

Den zweiten Ersatz findet der Künstler bei seinen Streifzügen durch Arles. Diesmal ist es tatsächlich ein Zaun, allerdings ein Eisenbahnzaun, mit Maschendraht. Die einzelnen Pfosten im oberen Teil nach außen gebogen, um das Übersteigen zu erschweren, verbunden durch weitere Drähte, auf dem obersten von ihnen drei Tüten, hübsch nebeneinander, zwei weiße und eine in Rosa in der Mitte. Der Zaun steht auf einer rund 3 Meter hohen Mauer, zu deren Füßen eine schmale Straße, auf der anderen Seite kleine Wohnhäuser, zweistöckig, Garagen, parkende Autos. Wenn die Kamera aufgebaut ist, kommt kein Auto mehr vorbei. Allerdings ist Sonntag Vormittag und daher kein eiliger Durchgangsverkehr zu erwarten. Nach einiger Zeit lediglich ein ältliches Paar in Tracht. In ihrem Kleinwagen lassen sie sich geduldig an der Kamera vorbei dirigierten. Aus einem Fenster dringt Fernsehgeplapper. Auf dem kleinen Balkon, eigentlich nur ein Sims mit Geländer, erscheint kurz ein dicklicher Junge, durch das Erscheinungsbild der großen Kamera offenbar von Fernsehgeplapper abgelenkt, lässt ein „Wauw“ verlauten, verschwindet wieder. Währenddessen fährt der Künstler den Kamerakanal aus, um den Zaun näher heranzuholen. Er lässt die Kamera schräg von unten nach oben auf den Zaun blicken und stellt sie leicht quer zu seiner Laufrichtung. Das Objektiv richtet er jedoch parallel zur Laufrichtung des Zaunes aus. Der Auftraggeber sieht ein leuchtendes Blau und ein sanftes Rosa, versucht sich jedoch an der grafischen Struktur zu erfreuen, die die parallelen Linen der Pfosten zusammen mit den quadratischen Liniennetz des Maschendrahtes auf dem entstehenden Foto bilden werden. Das schräg zu Blickrichtung der Kamera stehende Objektiv ermöglicht es, dass die Schärfe, der am genauesten aufgelöste Bereich von links oben nach rechts unten quer durch das Bild laufen wird, genau an dem Draht mit den Tüten entlang. „Unerreichbar für digitale Fotografie“, sagt der Künstler.

Die Fahnen von Trachila 2Bislang noch nicht erreicht haben die europäischen Müllrichtlinien offenbar den Norden Spaniens. Der Künstler findet die Müllhalde seiner Träume. Gut, es ist kein Stacheldraht und es geht ein so starker Wind, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einer 15tel Sekunde nicht klar ist, ob mit der riesigen Kamera ein unverwackeltes Bild zu machen ist. Dem Künstler ist das jedoch gar nicht mal so unrecht. Ein unverwackeltes Bild würde nur den Eindruck erwecken, als habe ein rätselhafter Kältestoß sämtliche Bewegungen erstarren lassen und die Plastiktüten und -folien, die in manchen Momenten im rechten Winkel vom Zaun abstehen, so heftig geht der Wind hindurch, innerhalb weniger Millisekunden schockgeforen. Dabei soll ganz im Gegenteil ihr Zerren und Flattern sichtbar bleiben, ihr Reißen und Knallen spürbar. Ein leichtes Verwackeln könnte dabei helfen. Es könnte dazu führen, dass der knatternde Plastik zwei, drei Mal abgebildet ist, leicht verschoben kurz hintereinander. Ein Comic erreicht die Illusion einer schnellen Bewegung in ähnlicher Weise. Derselbe Gegenstand wird um einige Millimeter verrückt mehrmals über- oder nebeneinander gezeichnet. Ein Römer zum Beispiel, wenn ihm Obelix die Hand schüttelt. Ob so etwas auf einem Foto entsteht und ob es die gewünschte Wirkung hat, ist immer auch Zufall, ein Ergebnis, das nicht geplant erzielt werden kann. Aber man kann einen solchen Zufall kalkulierend miteinbeziehen. Man kann ihm einen Raum gewähren. Das tut der Künstler, indem er unter Umständen fotografiert, unter denen kein unverwackeltes Foto zu machen ist, nicht mit diesen Materialen, nicht mit dieser Kamera. Vielleicht aber ereignet sich auf dem Fotopapier etwas Ähnliches, was auf einer Porträtaufnahme der Marquise Casati passierte, damals von Man Ray ganz unbeabsichtigt. Irgendetwas war schief gegangen, eine Lampe platzte, etwas stieß gegen die Kamera. Man Ray war wütend über die verpatzte Aufnahme und wollte das Foto erst gar nicht entwickeln. Aber die Marquise bekniete ihn. Als er es schließlich dennoch tat, hatte sie drei Augenpaare. Es war ein exzentrisches Foto einer exzentrischen Frau entstanden. Die Marquise war begeistert. Es wäre wohl eine Überschätzung des Auftraggebers, der doch bei weitem konservativer zu sein scheint als die Marquise, von ihm eine ähnliche Reaktion zu erwarten. Aber der Künstler hätte seine Freunde: an den verborgenen kunsthistorischen Bezügen und an seinem Vermögen, absichtlich dem Unwahrscheinlichen die Möglichkeit eingeräumt zu haben, dennoch einzutreten.

Zusammenspiel

Die ersten Bilder sind gemacht. Doch was ist ihre Funktion? Wofür stehen sie? Wie gehören sie zusammen? Der Künstler erzählt, dass auch das gesamte Tableau ebenfalls eine Geschichte erzählen soll. Es soll ein Anfangsbild und ein Schlussbild geben. Beginnen könnte es mit der Ausfahrt, mit Cottas Fahrt übers Meer und enden mit der Überwucherung Tomis. Dazwischen 13 weitere Bilder, die nicht den einzelnen Kapiteln entsprechen müssen. Nur ihre Gesamtzahl ist wichtig.

Außerdem sollen die einzelnen Bilder Titel haben. “Ruhm” heißt zum Beispiel eines, “Die eiserne Stadt” ein anderes. Das Bild der Mole von Séte könnte möglicherweise ein Anfangsbild sein. Aber wie soll es heißen? Der Auftraggeber schlägt “Trivia” vor, den Namen des Schiffes, mit dem Cotta nach Tomi reist. Trivia, die drei Wege, sei ein Beiname der griechischen Göttin Hekate, der Göttin der Übergänge, Schwellen und Wegkreuzungen. Wie bedeutungsreich. Der Auftraggeber liebt interlektuelle Anspielungen.

Alle Bilder zusammen sollen außerdem ein Gesamtbild ergeben, eine Gesamtstruktur. Das ganze Tableau soll nicht eine Aneinanderreihung von Einzelmotiven zerfallen. Es ist darum keineswegs gleichgültig, welches neben welchem steht. Und es ist noch gar nicht klar, welches Motiv es überhaupt schaffen wird, ins Tableau aufgenommen zu werden. Der Fotograf zieht öfter den Vergleich mit einer Fußballmannschaft: Aus lauter Stars kann man keine Mannschaft machen.

Battus

Battus 1Zwischen türkis oder rosa schimmernden Tütchen, knallroten Gummischläuchen und zerknüllten Papiertüchern ragt ein Menhir auf, dick und groß, aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Beispiel, Vorbild und Ansporn für die mindestens ebensovielen Erektionen, die in seiner Anwesenheit stattgefunden haben. Seine Größe und Standfestigkeit werden von dem Wirtschaftszweig, von dessen Arbeitsspuren der Boden übersäht ist, sicherlich wohlwollend genutzt. Kann doch sein Anblick dazu beitragen, dass die Austauschprozesse, die zu seinen Füßen stattfinden, schneller und reibungsloser von statten gehen.

Der Menhir soll Battus werden, der fallsüchtige Sohn der Kolonialwarenhändlerin Fama. Battus verfällt vollkommen einem Projektionsgerät, einem Bildwerfer, das Gegenstände vergrößert an die Wand wirft. Tagelang, wochenlang beschäftigt er sich ausschließlich damit, legt immmer wieder neue Gegenstände unter das Gerät, betrachtet die an der Wand entstehende Illusion. Er ist schließlich nicht mehr von dem Gerät wegzubringen, verlässt den Raum nicht mehr, in dem es steht, verrichtet in einer Ecke sein Notdurft. Eines Nachts findet Fama ihn zusammengesunken vor dem Gerät versteinert.
Battus 2

Der Fotograf begutachtet den Stein, aber das Licht ist noch falsch. Der Menhir hebt sich nicht genügend von den Bäumen im Hintergrund ab. Der Auftraggeber bevorzugt die andere Seite des Menhirs. Schlägt vor von unten zu fotografieren, schräg gegen den Himmel. Auf dieser Seite sind außerdem Gravuren zu erahnen. Dennoch: die Sonne muss zunächst noch wandern. Nach der Rückkehr muss der Auftraggeber einen Spiegel halten und eine bestimmte Stelle des Steins aufhellen, dabei noch leicht wackeln. Ihm ist völlig schleierhaft, was dabei herauskommen soll. Dem Fotografen fällt der Orangefilter in die Kamera, aber duldet keine Wiederholung. Jedes Bild kostet 2 Euro. Aber auch das Bild von der anderen Seite wird gemacht. Aber vermutlich wird es zu konkret sein. Man wird sagen: Interessant, ein Stein.

Mittlerweile hat es gebrannt, dort, wo der Menhir steht, und alle Spuren des Wirtschaftszweiges sind wohl hinweg geschmolzen. Liebend gern würde jetzt der Fotograf wieder hinfahren und den Stein, der ihm zu sehr ein Stein war, noch einmal fotografieren. Jetzt, in der verbrannten Landschaft vor surrealistisch verkokeltem Geäst, am besten noch im Dunst der Rauchschwaden ließe sich vermutlich ein weniger konkretistisches Foto machen.

Unter Geiern

Der Fotograf will Geier fotografieren. Dem Auftraggeber ist nicht so ganz klar, woher er diese Idee hat. Es muss irgendwie mit Ransmayrs 8. Kapitel zu tun haben, in dem Cotta die taubstumme Weberin Arachne besucht. Vielleicht mit ihrem von unzähligen Möven umschwirrten Haus oder mit ihren Wandteppichen, die stets Landschaften zeigen von einer Vielzahl von Vögeln bevölkert.

Der Fotograf hat ein genaues geographischen Gedächtnis. Ohne sich an Namen zu erinnern kann er in Nordspanien eine Straße, eine Kurve, ein Feld finden, an dem er vor 10 Jahren Bartgeier angetroffen hat. Das Bild der in den Aufwinden sich eporschraubenden riesigen Vögel hat ihn nicht verlassen. Vermutlich hat der Auftraggeber mit seinem Auftrag lediglich den Anlass gegeben, dass der Fotograf den Versuch startet, das bereits fertige Bild im Kopf mit einer aufwendigen technischen Apperatur und einer ebenso umständlichen chemischen Nachbehandlung von lichtepfindlichen Papier so gut es geht nachzuahmen, so weit wie möglich zu approximieren.

Der Auftraggeber und der Fotograf fahren in die grauen, gelben, braunen Agrarwüsten des Aragons, durch Schutthalden artige Hügelketten, vorbei an Schweine- und Hüherställen auf freiem Feld, die KZ-Baraken ähneln, mit einer Unverdrossenheit und Zuversicht, als seien die Geier nach 10 Jahren noch an derselben Stelle. Dem ist natürlich nicht so. Die Geier treten plötzlich auf.

Vorbeifahrt an einem Olivenhain, durch eine leichte Senke, rechts geht ein Feldweg ab, Zufahrt zu einer der Schweinefarmen. Die Einfahrt huscht vorbei und für den Bruchteil eines Augenblicks ist etwas zu erkennen: Da standen riesige braue Vögel auf dem Weg, Vögel halb so groß wie ein Mensch – und es waren viele. Das Auto wird links an den Straßenrand gefahren. Der Fotograf stürzt an den Kofferraum, entpackt das Stativ, zieht die Beine auseinander, schraubt Verlängerungen an, dreht an den Feststellschrauben, zerrt den hölzernen Kamerakoffer heraus, die ersten Geier fliegen auf, löst die Bügelverschlüsse, klappt den Deckel auf, entnimmt die Kamera, schraubt die Kamera auf das Stativ, noch mehr Geier fliegen auf, klappt die Fotoplatte in die Senkrechte, zieht die Flügelmuttern an den Haltebügeln fest, zieht den Kamerakanal auseinander, hackt das Objektiv ein, schraubt es fest, immmer mehr Geier fliegen auf. Nun ist die Kamera so weit, dass sie transportiert werden kann. Der Fotograf packt sie sich auf die Schulter und er und der Auftraggeber nähern sich dem Feldweg. Nun fliegen alle Geier auf. Der Fotograf stellt die Kamera auf den Weg, zieht an den Feststellschrauben des Stativs, kippt die Kamera, das Objektiv zeigt nun sekrecht nach oben. Die Geier beginnen zu kreisen, hier 12, dort drüben über 20. Der Fotograf wirft sich auf den Boden, versucht Schärfe auf das Bild zu kriegen, das Tuch zum Abdunkeln fehlt ihm, er kann kaum etwas auf der Fotoplatte erkennen, die Geier werden kleiner, der Auftraggeber zeigt sinnlos nach hier oder dort, wo die meisten Geier einzufangen seien, der Fotograf schiebt an dem Objektiv, zieht an dieser Schraube, dreht an jener, sucht in dem fast wolkenlosen Himmel nach einem Orientierungspunkt, an dem er die Tiefenschärfe einstellen kann, die Geier sind kaum noch zu erkennen, er dreht die Kamera, versucht es noch einmal an einer anderen Stelle, die Geier sind verschwunden.

Unter GeiernDer Auftaggeber geht den Feldweg ab und findet in einen halbverschlossenen Container ein totes Schwein, so groß und lang, dass es nicht ganz hineinpasst. Die Hinterbeine hängen heraus. Die Geier haben dem Schwein den Arsch abgefressen. Jetzt ist nur noch das hungrige Gesirr der Fliegen zu hören.