Exkurs I: Der Obere der Vögel und die Braut des Windes

Im Sommer 1937 zog Max Ernst mit seiner damaligen Geliebten, der 20jährigen Malerin Leonora Carrington, nach Südfrankreich. Das Leben in Paris in der Rue Jacob 12 war schwierig geworden. Immer wieder kam es zu peinlichen Auftritten mit Noch-Ehefrau Marie-Berthe Aurenche. Ihre einflussreiche Familie, ihr Vater war Polizeipräfekt, versuchte, Max Ernst gesellschaftlich unmöglich zu machen und geschäftlich zu ruinieren. Er verkaufte kaum noch Bilder. Ebenso war keine Unterstützung von Leonoras Seite zu erwarten. Ihre sehr begüterte Familie war über die Verbindung entsetzt und stellte jegliche Finanzierung ein. Leonoras Vater erstattete Anzeige gegen Max Ernst wegen Pornographie. Das Paar trat den Rückzug an.

Loplop und die Windsbraut - das Haus (Südwestansicht)Zunächst mieteten sie sich ein Dachzimmer im Hôtel et Café du Centre in Saint-Martin d’Ardèche. Im August 1938 kaufte Leonora Carrington ein altes, baufälliges Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert am Südhang des Ardèche-Tales mit 260 Hektar Land. In den folgenden knapp zwei Jahren bauten die Beiden das Haus in eine von Schutzgeistern und Hausgespenstern, von Fabel- und Mischwesen bevölkerte und behütete Schutzburg um. Der Raum neben dem Treppenaufgang wurde in eine Art Loggia umgewandelt, darüber ein Balkon eingerichtet. Max arbeitete an einem großen Flachrelief an der Südwand, schuf freistehende Plastiken für den Garten, stattete die Loggia mit Fresken aus und kombinierte sie mit Wandmasken. Für den Wohnraum begann er ein Ölgemälde mit dem Titel “Un peu de calme” (Ein bisschen Ruhe), mit 1,70m x 3,25m eines der größten, das er je gemacht hat. Leonora bemalte Schränke, Türen, Wände. Die von ihr modellierten Pferdeköpfe wurden als Armstützen in eine Gartenbank integriert. Der Fußboden des Schlafzimmers erhielt ein Fledermausmosaik, das Geländer des Treppenaufgangs zur Loggia mehrere kriechende oder liegende Mischwesen. Manche der Plastiken und Fresken sind mittlerweile verschwunden, von den Nachbesitzern abgebaut und mehr oder weniger erfolgreich zu Geld gemacht. Aber das große Flachrelief ist nach wie vor vorhanden, und die Fresken und Masken an den Wänden der Loggia.

Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand + Treppe Loggia

Über die Geschichte des Hauses, über den Verbleib der Skulpturen, über die Versuche der Nachbesitzer, die ihnen zugefallenen Kunstwerke zu Geld zu machen, darüber ist Einiges geschrieben wurden. Kaum etwas findet sich über die Skulpturen selbst. Wen stellt das Flachrelief der Südwand eigentlich dar? Was ist die Bedeutung der zwei, nein drei Figuren? Wozu hat Max diese neuen Mischwesen erfunden? Welche Charketereigenschaften hat er hier gemischt, welche Metaphern, welche Symbole, welche Mythen? In den Jahren 1938 und 1939 wurden zwei Erzählungen Leonoras in Paris publiziert. Max hatte jeweils einige Collagen dazu gemacht. 1938 “La maison de peur” (Das Haus der Angst) und 1939 “La dame ovale” (Die ovale Dame). Zu “La maison de peur” schrieb Max außerdem ein Vorwort mit den Titel “Loplop stellt die Windsbraut vor”, ein Text voller erotischer Glückseligkeit. Das Vogelwesen Loplop, der Obere der Vögel, begann Max Ernst in den Jahren zwischen 1929 und 1931 in einer ganzen Reihe von Bildern zu verwenden. Diese Kunstfigur, eine Art alter ego, erlaubte es ihm, sich gleichzeitig von seinem Werk zu distanzieren als es auch zu präsentieren. Denselben Kunstgriff benutzt er auch in dem einleitenden Text: Vorgestellt wird ein Mann, vielleicht ist es Loplop, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall hellt er die Landschaft auf, denn “wilde Liebkosungen” haben auf seinem “perlumutternen Leib ihre leuchtenden Spuren hinterlassen”. Dieser Mann hat eine Freundin, die Windsbraut, eine Freundin der Pferde. Sie ist aus dem Holz “ihres intensiven Lebens, ihres Geheimnisses, ihrer Poesie” geschnitzt. Loplop soll auch Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand: Loplop auf dem großen Relief dargestellt sein. Aber wer ist es? Der stampfende Gnom mit Froschmaul, der beschwörend die reichlich befiederten Flügelarme hebt? Früher einmal muss ein Blatt sein Gemächt bedeckt haben, bevor es ihm zu heutiger Geschlechtslosigkeit wegrestauriert wurde. Oder die große Figur mit dem Vogelkopf, die einen Stützpfeiler des Hauses als Körper nutzt, die Arme drohend und mächtig in den Himmel gereckt? Oder stellt hier Loplop Loplop vor, der große den kleinen, der mächtige den geilen, der beschützende den unterwandernden? Und wer oder was ist die andere Figur? Ein weibliches Wesen, offenbar, mit einem langen Hals und einem Kopf, der ebenfalls ein Vogelkopf sein könnte, einem Emu ähnlich oder einem Strauss. Bedeckt ist der Kopf mit einem Fisch. Die eine Hand ist abgewinckelt, die andere trägt ein kleines Monster. Es scheint sogar so, dass sich der Daumen der Hand in ein Monster verwandelt hat, ein Monster, das noch klein ist, aber noch sehr viel größer werden kann.
Loplop und die Windsbraut - Relief Südwand: Mann und Frau

Drei Mal blieb Leonora in Saint-Martin allein zurück. Oder soll man neutraler sagen: das Paar wurde getrennt? Oder muss man sogar sagen: Max hat Leonora verlassen? Im Winter 1937 fuhr Max zurück nach Paris, aus “geschlechtlicher Verpflichtung”, wie es Leonora in einer ihrer Erzählungen nennt, aber vielleicht auch oder vielleicht eher (wir sind Max wohlgesonnen!), um eine Ausstellung der Surrealisten zu organiseren. Leonora rechnete nicht mit seiner Wiederkehr. Aber Max kehrte zurück. Im Frühjahr. Und er hatte sich von seiner Frau getrennt.

Nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland im September 1939 wurden in Frankreich lebende Deutsche als “feindliche Ausländer” betrachtet und interniert. Max Ernst wurde sofort verhaftet und kam in das Lager Les Milles in der Nähe von Aix-en-Provence. Im Dezember 1939 wurde er jedoch entlassen, nachdem sein Freund Paul Eluard an den französischen Präsidenten geschrieben und sich für ihn verbürgt hatte.

Die dritte Trennung hat die Beziehung schließlich nicht überlebt. Im Mai 1940 begann der deutsche Westfeldzug. Frankreich wurde überrannt. Im Süden setzte die nächste Verhaftungswelle ein. Max wurde als Nazispion denunziert, kam wieder nach Les Milles, bestieg den “Geisterzug”, den die Exilanten unter den Lagerinsassen dem Lagerkommandanten abgerungen hatten und der sie vor den Deutschen in Sicherheit bringen sollte, in Richtung Nimes, konnte von dort fliehen und kehrte im Herbst 1940 nach Saint-Martin zurück. Aber Leonora war nicht mehr da. Max wurde erkannt, verhaftet, erneut nach Les Milles gebracht, floh wieder. Diese Flucht gelang und brachte ihn über Aiguèze, Marseille, Lissabon mit der Hilfe Peggy Guggenheims nach New York.

Loplop und die Windsbraut - das Haus (Westansicht)Im Juni 1940 übergab, “verkaufen” kann man nicht so richtig sagen, Leonora das Haus an den Kellner des Gasthofes, in dem sie und Max sich 1937 eingemietet hatten, und floh in Panik und Verzeiflung, in der Angst vor den heranrückenden Deutschen von zwei Freunden unterstützt, Richtung Spanien. Der Einfluss ihrer Familie verschaffte ihr ein Einreisevisum und sie gelangte über Barcelona nach Madrid. Dort wurde sie auf Betreiben ihrer Eltern in eine private Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Genesung organisierte sie mit der Hilfe des mexikanischen Schriftstellers Renato Leduc, mit dem sie auch kurz verheiratet war, ihre endgültige Flucht sowohl aus Europa als auch aus dem Einflußbreich der Eltern.

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