Unter Geiern

Der Fotograf will Geier fotografieren. Dem Auftraggeber ist nicht so ganz klar, woher er diese Idee hat. Es muss irgendwie mit Ransmayrs 8. Kapitel zu tun haben, in dem Cotta die taubstumme Weberin Arachne besucht. Vielleicht mit ihrem von unzähligen Möven umschwirrten Haus oder mit ihren Wandteppichen, die stets Landschaften zeigen von einer Vielzahl von Vögeln bevölkert.

Der Fotograf hat ein genaues geographischen Gedächtnis. Ohne sich an Namen zu erinnern kann er in Nordspanien eine Straße, eine Kurve, ein Feld finden, an dem er vor 10 Jahren Bartgeier angetroffen hat. Das Bild der in den Aufwinden sich eporschraubenden riesigen Vögel hat ihn nicht verlassen. Vermutlich hat der Auftraggeber mit seinem Auftrag lediglich den Anlass gegeben, dass der Fotograf den Versuch startet, das bereits fertige Bild im Kopf mit einer aufwendigen technischen Apperatur und einer ebenso umständlichen chemischen Nachbehandlung von lichtepfindlichen Papier so gut es geht nachzuahmen, so weit wie möglich zu approximieren.

Der Auftraggeber und der Fotograf fahren in die grauen, gelben, braunen Agrarwüsten des Aragons, durch Schutthalden artige Hügelketten, vorbei an Schweine- und Hüherställen auf freiem Feld, die KZ-Baraken ähneln, mit einer Unverdrossenheit und Zuversicht, als seien die Geier nach 10 Jahren noch an derselben Stelle. Dem ist natürlich nicht so. Die Geier treten plötzlich auf.

Vorbeifahrt an einem Olivenhain, durch eine leichte Senke, rechts geht ein Feldweg ab, Zufahrt zu einer der Schweinefarmen. Die Einfahrt huscht vorbei und für den Bruchteil eines Augenblicks ist etwas zu erkennen: Da standen riesige braue Vögel auf dem Weg, Vögel halb so groß wie ein Mensch – und es waren viele. Das Auto wird links an den Straßenrand gefahren. Der Fotograf stürzt an den Kofferraum, entpackt das Stativ, zieht die Beine auseinander, schraubt Verlängerungen an, dreht an den Feststellschrauben, zerrt den hölzernen Kamerakoffer heraus, die ersten Geier fliegen auf, löst die Bügelverschlüsse, klappt den Deckel auf, entnimmt die Kamera, schraubt die Kamera auf das Stativ, noch mehr Geier fliegen auf, klappt die Fotoplatte in die Senkrechte, zieht die Flügelmuttern an den Haltebügeln fest, zieht den Kamerakanal auseinander, hackt das Objektiv ein, schraubt es fest, immmer mehr Geier fliegen auf. Nun ist die Kamera so weit, dass sie transportiert werden kann. Der Fotograf packt sie sich auf die Schulter und er und der Auftraggeber nähern sich dem Feldweg. Nun fliegen alle Geier auf. Der Fotograf stellt die Kamera auf den Weg, zieht an den Feststellschrauben des Stativs, kippt die Kamera, das Objektiv zeigt nun sekrecht nach oben. Die Geier beginnen zu kreisen, hier 12, dort drüben über 20. Der Fotograf wirft sich auf den Boden, versucht Schärfe auf das Bild zu kriegen, das Tuch zum Abdunkeln fehlt ihm, er kann kaum etwas auf der Fotoplatte erkennen, die Geier werden kleiner, der Auftraggeber zeigt sinnlos nach hier oder dort, wo die meisten Geier einzufangen seien, der Fotograf schiebt an dem Objektiv, zieht an dieser Schraube, dreht an jener, sucht in dem fast wolkenlosen Himmel nach einem Orientierungspunkt, an dem er die Tiefenschärfe einstellen kann, die Geier sind kaum noch zu erkennen, er dreht die Kamera, versucht es noch einmal an einer anderen Stelle, die Geier sind verschwunden.

Unter GeiernDer Auftaggeber geht den Feldweg ab und findet in einen halbverschlossenen Container ein totes Schwein, so groß und lang, dass es nicht ganz hineinpasst. Die Hinterbeine hängen heraus. Die Geier haben dem Schwein den Arsch abgefressen. Jetzt ist nur noch das hungrige Gesirr der Fliegen zu hören.

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