Die Fahnen von Trachila

Die Fahnen von Trachila 1Als Cotta einige Wochen nach seiner Ankunft sich auf den Weg nach Trachila macht, Nasos letzten Zufluchtsort im Gebirge oberhalb von Tomi, eine Ansammlung fünf oder sechs verfallener Gehöfte, stößt er auf eine Vielzahl von Wimpeln und Fahnen, Stofffetzen eingewoben in Steinhaufen von unterschiedlicher Höhe, zerschnittene Kleider in allen möglichen Farben, ausgebleicht von der Sonne, ausgefranst durch den beständig an ihnen zerrenden Wind und – allesamt beschrieben. Auf einem von ihnen liest Cotta jenen Satz, der die Kernbotschaft des Ransmayrschen Romans und der Ovidschen Metamorphosen zu sein scheint, der in wenigen Worten aber wohl auch den Lauf aller Dinge zusammenfasst: „Keinem bleibt seine Gestalt“.

Das folgende Motiv soll den Fahnen von Trachila gegenübergestellt werden, vom Auftraggeber und vom Künstler in gemeinsamer Arbeit entwickelt: ein Zaun aus Draht, am besten Stacheldraht, als Absperrung dienend, am besten einer Müllhalde, daran Plastiktüten, am besten viele, von Dornen und Wind zerrissen, am besten wild flatternd.

Früher gab es im Süden solche Müllhalden recht häufig, der Künstler erinnert sich an eine am südwestlichen Ortsausgang von Montpellier. Die Durchsetzung von Richtlinien, vielleicht sogar EU-weiter, hat sie fast vollständig verschwinden lassen. Auftraggeber und Künstler suchen daher nach Ersatz.

Der erste brauchbare ist eine Plastikfolie in einem Baum in der Nähe einer Brücke über die Ardèche, allerdings direkt an der Straße. Der Künstler weiß von Vorfällen zu berichten, bei denen am Straßenrand herumturnende Fotografen, vor allem wenn mit großen Kameras hantierend, was ja in diesem Fall zutrifft, von der Gendarmerie wegen Verkehrsbehinderung verhaftet worden sind. Das gibt der Sache eine gewisse Brisanz. Vorher wird daher die Kamera zusammen gebaut und aufs Stativ geschraubt, dann etwa 100 m die Straße hingeschleppt. Bildausschnitt einrichten, schnell scharf stellen, eine Sekunde Belichtung dürfte reichen, die schützende Abdeckplatte aus der Fotokassette heraus ziehen, eine Lücke in der vorbeipreschenden Autokolonne abwarten, die Druckwelle würde die Kamera bewegen und damit das Bild verwackeln, ein Lastwagen könnte sie sogar samt Stativ zum Kippen bringen, abdrücken, Abdeckplatte wieder einschieben, Kamera packen und zurück – und natürlich hoffen, alles richtig gemacht zu haben: keinen Lichteinfall erzeugt beim Herausziehen der Abdeckplatte etwa oder den Wind richtig eingeschätzt, kein Fehler bei der Berechnung der Belichtungszeit.

Den zweiten Ersatz findet der Künstler bei seinen Streifzügen durch Arles. Diesmal ist es tatsächlich ein Zaun, allerdings ein Eisenbahnzaun, mit Maschendraht. Die einzelnen Pfosten im oberen Teil nach außen gebogen, um das Übersteigen zu erschweren, verbunden durch weitere Drähte, auf dem obersten von ihnen drei Tüten, hübsch nebeneinander, zwei weiße und eine in Rosa in der Mitte. Der Zaun steht auf einer rund 3 Meter hohen Mauer, zu deren Füßen eine schmale Straße, auf der anderen Seite kleine Wohnhäuser, zweistöckig, Garagen, parkende Autos. Wenn die Kamera aufgebaut ist, kommt kein Auto mehr vorbei. Allerdings ist Sonntag Vormittag und daher kein eiliger Durchgangsverkehr zu erwarten. Nach einiger Zeit lediglich ein ältliches Paar in Tracht. In ihrem Kleinwagen lassen sie sich geduldig an der Kamera vorbei dirigierten. Aus einem Fenster dringt Fernsehgeplapper. Auf dem kleinen Balkon, eigentlich nur ein Sims mit Geländer, erscheint kurz ein dicklicher Junge, durch das Erscheinungsbild der großen Kamera offenbar von Fernsehgeplapper abgelenkt, lässt ein „Wauw“ verlauten, verschwindet wieder. Währenddessen fährt der Künstler den Kamerakanal aus, um den Zaun näher heranzuholen. Er lässt die Kamera schräg von unten nach oben auf den Zaun blicken und stellt sie leicht quer zu seiner Laufrichtung. Das Objektiv richtet er jedoch parallel zur Laufrichtung des Zaunes aus. Der Auftraggeber sieht ein leuchtendes Blau und ein sanftes Rosa, versucht sich jedoch an der grafischen Struktur zu erfreuen, die die parallelen Linen der Pfosten zusammen mit den quadratischen Liniennetz des Maschendrahtes auf dem entstehenden Foto bilden werden. Das schräg zu Blickrichtung der Kamera stehende Objektiv ermöglicht es, dass die Schärfe, der am genauesten aufgelöste Bereich von links oben nach rechts unten quer durch das Bild laufen wird, genau an dem Draht mit den Tüten entlang. „Unerreichbar für digitale Fotografie“, sagt der Künstler.

Die Fahnen von Trachila 2Bislang noch nicht erreicht haben die europäischen Müllrichtlinien offenbar den Norden Spaniens. Der Künstler findet die Müllhalde seiner Träume. Gut, es ist kein Stacheldraht und es geht ein so starker Wind, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einer 15tel Sekunde nicht klar ist, ob mit der riesigen Kamera ein unverwackeltes Bild zu machen ist. Dem Künstler ist das jedoch gar nicht mal so unrecht. Ein unverwackeltes Bild würde nur den Eindruck erwecken, als habe ein rätselhafter Kältestoß sämtliche Bewegungen erstarren lassen und die Plastiktüten und -folien, die in manchen Momenten im rechten Winkel vom Zaun abstehen, so heftig geht der Wind hindurch, innerhalb weniger Millisekunden schockgeforen. Dabei soll ganz im Gegenteil ihr Zerren und Flattern sichtbar bleiben, ihr Reißen und Knallen spürbar. Ein leichtes Verwackeln könnte dabei helfen. Es könnte dazu führen, dass der knatternde Plastik zwei, drei Mal abgebildet ist, leicht verschoben kurz hintereinander. Ein Comic erreicht die Illusion einer schnellen Bewegung in ähnlicher Weise. Derselbe Gegenstand wird um einige Millimeter verrückt mehrmals über- oder nebeneinander gezeichnet. Ein Römer zum Beispiel, wenn ihm Obelix die Hand schüttelt. Ob so etwas auf einem Foto entsteht und ob es die gewünschte Wirkung hat, ist immer auch Zufall, ein Ergebnis, das nicht geplant erzielt werden kann. Aber man kann einen solchen Zufall kalkulierend miteinbeziehen. Man kann ihm einen Raum gewähren. Das tut der Künstler, indem er unter Umständen fotografiert, unter denen kein unverwackeltes Foto zu machen ist, nicht mit diesen Materialen, nicht mit dieser Kamera. Vielleicht aber ereignet sich auf dem Fotopapier etwas Ähnliches, was auf einer Porträtaufnahme der Marquise Casati passierte, damals von Man Ray ganz unbeabsichtigt. Irgendetwas war schief gegangen, eine Lampe platzte, etwas stieß gegen die Kamera. Man Ray war wütend über die verpatzte Aufnahme und wollte das Foto erst gar nicht entwickeln. Aber die Marquise bekniete ihn. Als er es schließlich dennoch tat, hatte sie drei Augenpaare. Es war ein exzentrisches Foto einer exzentrischen Frau entstanden. Die Marquise war begeistert. Es wäre wohl eine Überschätzung des Auftraggebers, der doch bei weitem konservativer zu sein scheint als die Marquise, von ihm eine ähnliche Reaktion zu erwarten. Aber der Künstler hätte seine Freunde: an den verborgenen kunsthistorischen Bezügen und an seinem Vermögen, absichtlich dem Unwahrscheinlichen die Möglichkeit eingeräumt zu haben, dennoch einzutreten.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>