Der Auftrag

Ein Künstler, ein Fotograf, erhält den Auftrag. Bilder zu Christoph Ransmayrs Roman “Die letzte Welt” zu erfinden. Thematisch hat er voilkommen freie Hand. Ob sich die Bilder mit dem Roman beschäftigen oder mit seinem stets unsichtbar bleibenden Kern, dem römischen Schriftsteller Ovid, ob sie sich mit Ovids berühmtesten Werk, den Metamorphosen, auseinandersetzen oder dessen Wirkungen in den bildenden und darstellenden Künsten nachgehen, ob Verwandlungen selbst das Thema sein werden oder Verwandlungen von Welt in oder durch Fotografie – dem Auftraggeber ist das alles gleich gültig. In der Vielzahl der beschreitbaren Wege, die dem Fotografen in der Auseinandersetzung mit dem Thema offen stehen, sieht er gerade den hauptsächlichen Reiz seines Vorschlages. Er glaubt, dem Künstler einen nahezu unbegrenzten Möglichkeitsraum angeboten zu haben.
Nach recht kurzer Zeit macht der Fotograf allerdings dem Auftraggeber klar, dass zunächst eine Reise zu unternehmen ist. Er erzählt von Steilküsten und im Meer versunkenen Bunkern, von Geiern und Trümmerstädten, von Hafenmolen und blattlosem Dornengestrüpp. Das Konzept der Arbeit ist bereits fertig: ein 4 bis 5 Meter langes Tableau bestehend aus 15 Bilder, entsprechend den 15 Kapiteln des Ransmayr’schen Romans oder, was das Gleiche ist, der Ovid’schen Metamorphosen. Alle Bilder gleich hoch aber von unterschiedlicher Breite und auf unterschiedlich tiefe Rahmen gespannt, so dass sich eine Art Relief ergeben wird, eine breite dreidimensionale rhythmische Linie. Ebenso sind bereits Motive für das Tableau entstanden, wenn auch größtenteils nur im Kopf des Künstlers. Eine Vielzahl der dazugehörenden Bilder muss noch gemacht werden. Aus diesem Grund: die Reise, auf die der Auftraggeber den Künstler zu begleiten hat. Das ist eine unmittelbare Konsequenz seines Auftrages. Sie wird ihn unentwirrbar mit seinem Auftrag verwickeln.

Doch worum geht es in dem Roman?

Der beginnt ebenfalls mit einer Reise. Cotta – wer Cotta eigentlich ist, wird nicht recht deutlich – schifft sich in Rom ein, um nach Tomi zu fahren, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, damals am äußersten Rand des römischen Herrschaftsbereichs gelegen und damit am Ende der bekannten Welt. Er sucht dort nach Publius Naso, bekannter unter dem Namen “Ovid”, einen dorthin verbannten Schriftsteller, vordem in Rom eine bekannte Größe, ein Star, persönlicher Bekannter des Kaisers Augustus und Lieblingsdichter der oberen Gesellschaftsschichten. Die Gründe für Nasos Verbannung liegen im Dunkeln. Ebenso sind auch die Gründe für Cottas Reise unklar. Was will er in Tomi? Will er neue Nachrichten über den Verbannten nach Rom bringen? Will er an der Neugierde nach dem Verbleib und Ergehen des einst so hoch Stehenden und nun so tief Gefallenen verdienen? Ist Cotta ein Journalist, sogar ein Sensationsjournalist? In der an zerklüftete Felswände gedrückten, von Wind und Wetter gezeichneten, mit Rost überzogenen und von Gestrüpp überwucherten Bergbaustadt trifft Cotta auf Bewohner, die allesamt aus Nasos Geschichten entsprungen sind: den Seiler Lycaon, der nachts mit einem Wolfsvlies ins Gebirge eilt, die schöne Prostituierte Echo, deren Haut von einer über ihren Körper wandernden Schuppenflechte verunstaltet wird, die taubstumme Teppichknüpferin Ariadne, die Kolonialwarenhändlerin Fama und deren fallsüchtigen Sohn Battus, den Filmvorführer Cyparis. Außerdem stößt er auf Bruchstücke von Nasos Werken, in Felsblöcke gemeißelt oder Stofffahnen gepinselt. Naso selbst findet er jedoch nicht. Je länger Cotta in Tomi bleibt, um so mehr entpuppt sich seine Reise als Fahrt ins Nichts, ins Nirgendwo. Dennoch verlässt er Tomi nicht, er bleibt, und während sich um ihm herum immer rasanter die Landschaft verändert, Pflanzen die Stadt überwuchern, Erdrutsche und Steinschläge das Gebirge verformen und neue Moränen und Mure bilden, entgleiten Cotta nicht nur Ziel und Sinn seiner Reise, er verliert auch mehr und mehr die Orientierung, bis er schließlich durch ihm unbekannt gewordene Gegenden stolpert. Der Unterschied zwischen der erlebten Wirklichkeit Cottas und der erzählten und damit erfundenen Wirklichkeit Ovids löst sich auf. Eine erzählte Wirklichkeit, die Welt der Ovid’schen Metamorphosen, ist Realität geworden. Diese Realität wiederum, die von Cotta erlebte Welt, ist die erzählte Erfindung Christoph Ransmayrs. Und beide Erfindungen verweben sich ineinander: Zum Schluss ist sich Cotta sicher, im Gebirge ein von Naso beschriebenes Fähnchen mit seinem eigenen Namen zu finden.

Die Erfindung der Wirklichkeit bedurfte keiner Aufzeichnung mehr. (Christoph Ransmayr: Die letzte Welt, 287)

Das verlorene Motiv

Das verschwundene MotivMachtlos ist die Fotografie, wenn die Dinge in der Wirklichkeit verloren gehen. Am Strand von Saintes Maries de la Mer am Südende der Camargue soll ein Bunker im Meer liegen. Ursprünglich direkt auf den Strand gebaut ist er ins Meer gerutscht in den vergangenen Jahrzehnten, in denen das Meer das Land abtrug. Jetzt liegt er mitten im Wasser. Das ist das erste Motiv. Der Künstler hat es im Vorfeld ausführlich beschrieben. Nur: der Bunker ist nicht mehr da. Hinter dem Strand, in den Sumpfwiesen liegen sie noch, die eingesunkenen Überbleibsel vermutlich deutscher Befestigungsanlangen aus dem 2. Weltkrieg. Aber der im Meer ist verschwunden. Immer wieder fahren der Künstler und sein Auftraggeber den Strand an, von Saintes-Maries-de-la-Mer aus nach Westen bis zur Mündung der kleinen Rhône: nichts.

Die Beschreibungen des Künstlers haben im Auftraggeber ein klares Bild des geplanten Bildes entstehen lassen. Der Himmel, das Meer und der Bunker sind reduziert auf abstrakte geometrische Formen: eine Fläche und ein mehreckiger Körper. Der einheitliche graue Hintergrund, ob mehr Ebene oder ob mehr Fläche das darf nach Ansicht der Auftraggebers offen bleiben, ist im unteren Teil heller, weil dort an manchen Stellen von weißlichen Schlieren durchzogen, im oberen Bereich dunkler, grauer in grauer. Im unteren Drittel, nach links aus der Mitte gerückt, ein tiefschwarzes, teilweise regelmäßig rechteckiges, oben rechts aber unregelmäßiges Mehreck. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um einen Körper handelt, einen Quader, der nach vorne oder nach unten – je nach dem noch vorhandenen Ausmaß der Tiefenillusion – in die graue Fläche abgesunken ist, und zwar mit dem vorderen oder anders gesagt: unteren linken Ende mehr als mit dem unteren rechten. Daher die Vieleckigkeit. Man muss einräumen: Seine Vorstellung ist sehr genau, Spielraum gibt es da kaum. Nicht einen Moment fragt er sich, inwieweit seine Vorstellung mit dem Motiv übereinstimmt, das der Künstler vor Augen hat. Für ihn ist seine Vorstellung das Motiv.

Nachdem der Auftraggeber die Örtlichkeiten gesehen hat, wird er unsicher. Er fürchtet, dass das tatsächliche Bild mit demjenigen, das er im Kopf hat, kaum etwas zu tun gehabt hätte. Er zweifelt sogar, ob es überhaupt ähnlich gewesen wäre. Er bedauert daher nicht sehr, dass es nicht zustande kommen wird. Er weiß ja, wie es ausgesehen hätte. Und so gefiel es ihm recht gut. Unverkennbar hat der Künstler eine ebenso deutliche Vorstellung des geplanten Bildes. Unbeantwortbar bleibt allerdings, ob die beiden Vorstellungen übereinstimmen, ob sie überhaupt ähnlich sind.

Die Bucht der Balustraden

Die Bucht der Ballustraden 1Es gibt auch das Umgekehrte: ein Motiv, das der Künstler immer schon mal fotografieren wollte, hat plötzlich eine Funktion bekommen und kann deshalb in ein Bild umgesetzt werden. Die Steilkünste zwischen Cerbère und Portbou soll die Bucht der Balustraden werden. Hier, wo die Pyrenäen ins Mittelmeer stürzen, verschieden steil aufgrichtete Schieferwände schräg und zersplitternd in blaugrünes Wasser fallen, Fluchtweg so vieler Emmigranten, die an dieser Stelle zu Fuß oder per Eisenbahn den Übertritt aus dem unsicheren Frankreich ins nicht sehr viel sicherere Spanien versuchten und Endpunkt für einen von ihnen, Walter Benjamin, der sich in Portbou das Leben nahm, hier sitzt jetzt der Fotograf, misst Lichtstärken und versucht, den gleichen Helligkeiten und damit gleichen Grauwerten der Licht reflektierenden Schieferwände einerseits und des strahlend blauen Himmels andererseits durch einen Orangefilter abzuhelfen, der die Kontraste verstärken soll. Still ist diese Bucht der Balustraden, nicht tosend laut wie die Ransmayrs, in der Echo die Worte vom Mund gerissen werden, nur ein leichter Wind geht. Aber selbst der kann das Bild gefährden, denn die ausgezogene Zieharmonika des Kamerakanals ist anfällig für jeden Windstoß. Der Fotgraf wartet daher auf ein Windloch. Ob es lang genug war, wird er wiederum erst im Rotlicht der Dunkelkammer sehen.

Die Fahnen von Trachila

Die Fahnen von Trachila 1Als Cotta einige Wochen nach seiner Ankunft sich auf den Weg nach Trachila macht, Nasos letzten Zufluchtsort im Gebirge oberhalb von Tomi, eine Ansammlung fünf oder sechs verfallener Gehöfte, stößt er auf eine Vielzahl von Wimpeln und Fahnen, Stofffetzen eingewoben in Steinhaufen von unterschiedlicher Höhe, zerschnittene Kleider in allen möglichen Farben, ausgebleicht von der Sonne, ausgefranst durch den beständig an ihnen zerrenden Wind und – allesamt beschrieben. Auf einem von ihnen liest Cotta jenen Satz, der die Kernbotschaft des Ransmayrschen Romans und der Ovidschen Metamorphosen zu sein scheint, der in wenigen Worten aber wohl auch den Lauf aller Dinge zusammenfasst: „Keinem bleibt seine Gestalt“.

Das folgende Motiv soll den Fahnen von Trachila gegenübergestellt werden, vom Auftraggeber und vom Künstler in gemeinsamer Arbeit entwickelt: ein Zaun aus Draht, am besten Stacheldraht, als Absperrung dienend, am besten einer Müllhalde, daran Plastiktüten, am besten viele, von Dornen und Wind zerrissen, am besten wild flatternd.

Früher gab es im Süden solche Müllhalden recht häufig, der Künstler erinnert sich an eine am südwestlichen Ortsausgang von Montpellier. Die Durchsetzung von Richtlinien, vielleicht sogar EU-weiter, hat sie fast vollständig verschwinden lassen. Auftraggeber und Künstler suchen daher nach Ersatz.

Der erste brauchbare ist eine Plastikfolie in einem Baum in der Nähe einer Brücke über die Ardèche, allerdings direkt an der Straße. Der Künstler weiß von Vorfällen zu berichten, bei denen am Straßenrand herumturnende Fotografen, vor allem wenn mit großen Kameras hantierend, was ja in diesem Fall zutrifft, von der Gendarmerie wegen Verkehrsbehinderung verhaftet worden sind. Das gibt der Sache eine gewisse Brisanz. Vorher wird daher die Kamera zusammen gebaut und aufs Stativ geschraubt, dann etwa 100 m die Straße hingeschleppt. Bildausschnitt einrichten, schnell scharf stellen, eine Sekunde Belichtung dürfte reichen, die schützende Abdeckplatte aus der Fotokassette heraus ziehen, eine Lücke in der vorbeipreschenden Autokolonne abwarten, die Druckwelle würde die Kamera bewegen und damit das Bild verwackeln, ein Lastwagen könnte sie sogar samt Stativ zum Kippen bringen, abdrücken, Abdeckplatte wieder einschieben, Kamera packen und zurück – und natürlich hoffen, alles richtig gemacht zu haben: keinen Lichteinfall erzeugt beim Herausziehen der Abdeckplatte etwa oder den Wind richtig eingeschätzt, kein Fehler bei der Berechnung der Belichtungszeit.

Den zweiten Ersatz findet der Künstler bei seinen Streifzügen durch Arles. Diesmal ist es tatsächlich ein Zaun, allerdings ein Eisenbahnzaun, mit Maschendraht. Die einzelnen Pfosten im oberen Teil nach außen gebogen, um das Übersteigen zu erschweren, verbunden durch weitere Drähte, auf dem obersten von ihnen drei Tüten, hübsch nebeneinander, zwei weiße und eine in Rosa in der Mitte. Der Zaun steht auf einer rund 3 Meter hohen Mauer, zu deren Füßen eine schmale Straße, auf der anderen Seite kleine Wohnhäuser, zweistöckig, Garagen, parkende Autos. Wenn die Kamera aufgebaut ist, kommt kein Auto mehr vorbei. Allerdings ist Sonntag Vormittag und daher kein eiliger Durchgangsverkehr zu erwarten. Nach einiger Zeit lediglich ein ältliches Paar in Tracht. In ihrem Kleinwagen lassen sie sich geduldig an der Kamera vorbei dirigierten. Aus einem Fenster dringt Fernsehgeplapper. Auf dem kleinen Balkon, eigentlich nur ein Sims mit Geländer, erscheint kurz ein dicklicher Junge, durch das Erscheinungsbild der großen Kamera offenbar von Fernsehgeplapper abgelenkt, lässt ein „Wauw“ verlauten, verschwindet wieder. Währenddessen fährt der Künstler den Kamerakanal aus, um den Zaun näher heranzuholen. Er lässt die Kamera schräg von unten nach oben auf den Zaun blicken und stellt sie leicht quer zu seiner Laufrichtung. Das Objektiv richtet er jedoch parallel zur Laufrichtung des Zaunes aus. Der Auftraggeber sieht ein leuchtendes Blau und ein sanftes Rosa, versucht sich jedoch an der grafischen Struktur zu erfreuen, die die parallelen Linen der Pfosten zusammen mit den quadratischen Liniennetz des Maschendrahtes auf dem entstehenden Foto bilden werden. Das schräg zu Blickrichtung der Kamera stehende Objektiv ermöglicht es, dass die Schärfe, der am genauesten aufgelöste Bereich von links oben nach rechts unten quer durch das Bild laufen wird, genau an dem Draht mit den Tüten entlang. „Unerreichbar für digitale Fotografie“, sagt der Künstler.

Die Fahnen von Trachila 2Bislang noch nicht erreicht haben die europäischen Müllrichtlinien offenbar den Norden Spaniens. Der Künstler findet die Müllhalde seiner Träume. Gut, es ist kein Stacheldraht und es geht ein so starker Wind, dass selbst bei einer Belichtungszeit von einer 15tel Sekunde nicht klar ist, ob mit der riesigen Kamera ein unverwackeltes Bild zu machen ist. Dem Künstler ist das jedoch gar nicht mal so unrecht. Ein unverwackeltes Bild würde nur den Eindruck erwecken, als habe ein rätselhafter Kältestoß sämtliche Bewegungen erstarren lassen und die Plastiktüten und -folien, die in manchen Momenten im rechten Winkel vom Zaun abstehen, so heftig geht der Wind hindurch, innerhalb weniger Millisekunden schockgeforen. Dabei soll ganz im Gegenteil ihr Zerren und Flattern sichtbar bleiben, ihr Reißen und Knallen spürbar. Ein leichtes Verwackeln könnte dabei helfen. Es könnte dazu führen, dass der knatternde Plastik zwei, drei Mal abgebildet ist, leicht verschoben kurz hintereinander. Ein Comic erreicht die Illusion einer schnellen Bewegung in ähnlicher Weise. Derselbe Gegenstand wird um einige Millimeter verrückt mehrmals über- oder nebeneinander gezeichnet. Ein Römer zum Beispiel, wenn ihm Obelix die Hand schüttelt. Ob so etwas auf einem Foto entsteht und ob es die gewünschte Wirkung hat, ist immer auch Zufall, ein Ergebnis, das nicht geplant erzielt werden kann. Aber man kann einen solchen Zufall kalkulierend miteinbeziehen. Man kann ihm einen Raum gewähren. Das tut der Künstler, indem er unter Umständen fotografiert, unter denen kein unverwackeltes Foto zu machen ist, nicht mit diesen Materialen, nicht mit dieser Kamera. Vielleicht aber ereignet sich auf dem Fotopapier etwas Ähnliches, was auf einer Porträtaufnahme der Marquise Casati passierte, damals von Man Ray ganz unbeabsichtigt. Irgendetwas war schief gegangen, eine Lampe platzte, etwas stieß gegen die Kamera. Man Ray war wütend über die verpatzte Aufnahme und wollte das Foto erst gar nicht entwickeln. Aber die Marquise bekniete ihn. Als er es schließlich dennoch tat, hatte sie drei Augenpaare. Es war ein exzentrisches Foto einer exzentrischen Frau entstanden. Die Marquise war begeistert. Es wäre wohl eine Überschätzung des Auftraggebers, der doch bei weitem konservativer zu sein scheint als die Marquise, von ihm eine ähnliche Reaktion zu erwarten. Aber der Künstler hätte seine Freunde: an den verborgenen kunsthistorischen Bezügen und an seinem Vermögen, absichtlich dem Unwahrscheinlichen die Möglichkeit eingeräumt zu haben, dennoch einzutreten.