Das Vorhandene verschwinden lassen

Das Vorhandene verschwinden lassenEin Foto gilt als Abbildung der Realität. Täglich hat es millionenfach diesen einen Zweck. Es dient als Dokument des Vorhandenen, als Beweis des genau da genau so Vorgefundenen, als Beleg seiner Existenz. Das Foto, so lautet die Vorstellung, hält einen bestimmten Wirklichkeitsmoment fest, es fiert ihn ein, gießt ihn in Zement.

Ein erster Schritt zur Abstraktion ist, diese zentrale Funktion des Fotos zu stören. Es soll nicht abbilden, was da ist, nicht festhalten, was vorgefunden wird, nicht in Erstarrung bannen, was vorhanden ist. Es soll etwas zeigen, was nicht da ist, etwas, das man so nicht sehen kann.

Ein Weg, etwas zu zeigen, was man so nicht sehen kann, ist, etwas wegzulassen, was man sieht. Zum Beispiel Bewegungen. Nun lässt ein Foto Bewegungen nicht einfach weg, es friert sie lediglich ein. Das ist bekannt. Manchmal werden sie unscharf. Das Foto war nicht in der Lage, sie in der gewohnten Genauigkeit festzuhalten. Der sich bewegende Gegenstand wird gewissermaßen gedehnt. Er nimmt mehr Raum ein, als ihm eigentlich zusteht. Auch das ist bekannt. Nimmt man jedoch einen schwach lichtempfindlichen Film, so wenig lichtempfindlich wie möglich, und eine lange Belichtungszeit, so sorgt das dafür, dass ein sich bewegender Gegenstand auf dem Foto gar nicht erst erscheint. Er existiert nicht. Vorbeigehende Personen, vorbeifahrende Autos sind nicht vorhanden. Eine belebte Straße ist menschenleer. Ein sich ständig bewegender Gegenstand wie das Meer erstarrt zu einer planen Fläche. Das wäre ein Foto des Meeres, wie es das Auge nicht sehen kann. Man könnte sogar versuchen, es mit Hilfe von Tageszeit und Sonnenstand, je nach Wetterlage und Witterungsverhältnissen, mit bestimmter Belichtungszeit und Brennweite so zu fotografieren, dass es mit dem Himmel verschwimmt. Eine Horizontlinie wäre nicht mehr erkennbar, Himmel und Meer würden eins.

Um ein solches Foto des Meeres zu machen, fahren der Künstler und sein Auftraggeber an die Südküste Frankreichs.

Das verlorene Motiv

Das verschwundene MotivMachtlos ist die Fotografie, wenn die Dinge in der Wirklichkeit verloren gehen. Am Strand von Saintes Maries de la Mer am Südende der Camargue soll ein Bunker im Meer liegen. Ursprünglich direkt auf den Strand gebaut ist er ins Meer gerutscht in den vergangenen Jahrzehnten, in denen das Meer das Land abtrug. Jetzt liegt er mitten im Wasser. Das ist das erste Motiv. Der Künstler hat es im Vorfeld ausführlich beschrieben. Nur: der Bunker ist nicht mehr da. Hinter dem Strand, in den Sumpfwiesen liegen sie noch, die eingesunkenen Überbleibsel vermutlich deutscher Befestigungsanlangen aus dem 2. Weltkrieg. Aber der im Meer ist verschwunden. Immer wieder fahren der Künstler und sein Auftraggeber den Strand an, von Saintes-Maries-de-la-Mer aus nach Westen bis zur Mündung der kleinen Rhône: nichts.

Die Beschreibungen des Künstlers haben im Auftraggeber ein klares Bild des geplanten Bildes entstehen lassen. Der Himmel, das Meer und der Bunker sind reduziert auf abstrakte geometrische Formen: eine Fläche und ein mehreckiger Körper. Der einheitliche graue Hintergrund, ob mehr Ebene oder ob mehr Fläche das darf nach Ansicht der Auftraggebers offen bleiben, ist im unteren Teil heller, weil dort an manchen Stellen von weißlichen Schlieren durchzogen, im oberen Bereich dunkler, grauer in grauer. Im unteren Drittel, nach links aus der Mitte gerückt, ein tiefschwarzes, teilweise regelmäßig rechteckiges, oben rechts aber unregelmäßiges Mehreck. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um einen Körper handelt, einen Quader, der nach vorne oder nach unten – je nach dem noch vorhandenen Ausmaß der Tiefenillusion – in die graue Fläche abgesunken ist, und zwar mit dem vorderen oder anders gesagt: unteren linken Ende mehr als mit dem unteren rechten. Daher die Vieleckigkeit. Man muss einräumen: Seine Vorstellung ist sehr genau, Spielraum gibt es da kaum. Nicht einen Moment fragt er sich, inwieweit seine Vorstellung mit dem Motiv übereinstimmt, das der Künstler vor Augen hat. Für ihn ist seine Vorstellung das Motiv.

Nachdem der Auftraggeber die Örtlichkeiten gesehen hat, wird er unsicher. Er fürchtet, dass das tatsächliche Bild mit demjenigen, das er im Kopf hat, kaum etwas zu tun gehabt hätte. Er zweifelt sogar, ob es überhaupt ähnlich gewesen wäre. Er bedauert daher nicht sehr, dass es nicht zustande kommen wird. Er weiß ja, wie es ausgesehen hätte. Und so gefiel es ihm recht gut. Unverkennbar hat der Künstler eine ebenso deutliche Vorstellung des geplanten Bildes. Unbeantwortbar bleibt allerdings, ob die beiden Vorstellungen übereinstimmen, ob sie überhaupt ähnlich sind.

Sète

Die Mole von Séte soll das erste Bild werden. Die Kamera in einem kantigen, fast quadratischen Holzkoffer, Stativ, Kassetten bestückt mit Fotopapier von 20 x 25 Zentimetern, alles ist aufzubauen bevor die Sonne durchbricht, morgens um halb acht. Vorher stand sie schon kreisrund und rotorange über dem Horizont und verschwand dann Stück für Stück in einer Wolkendecke. Das verminderte Licht ist günstig. Vielleicht lässt sich die für das Auge gut erkennbar Horizontlinie, Séte 1die Himmel und Wasser trennt, zum Verschwinden bringen. Umso mehr als dasselbe Bild noch einmal mit einem Blaufilter belichtet wird. Außerdem werden eine lange Belichtungszeit und lichtunempfindliches Fotopapier gewählt. Das wird die Bewegung des Meeres einfrieren. Entstehen soll eine einheitliche grau melierte Fläche. In diese Fläche ragt schwarz und von würfelförmigen Wellenbrecher zerklüftet die Mole von Séte, die dann keine Mole mehr ist, sondern ein strukturiertes, kantiges Objekt, der Kontrast in der Ruhe der grauen Fläche. So der Plan, das ist die Vorstellung. Ob es so werden wird, ist noch ungewiss. Denn noch bilden sich für dem Auftraggeber unter dem Kameratuch das Blaugrau des Meeres und das Graublau des Himmels, das Gelbblau der Steine und das Grün der Leuchtboje deutlich auf der Fotoplatte ab, umgekehrt zwar, auf dem Kopf stehend, aber dennoch klar unterscheidbar. Ob und wie sich diese Abbildung in die beschreibene Vorstellung verwandeln lässt, muss dem handwerklichen Können des Künstlers überlassen werden. Dem Auftraggeber ist das unverständlich. Gewiss ist nur eines: die Farben werden verschwinden. Der Künstler besteht auf Schwarzweiß. Da lässt er nicht mit sich diskutieren. Schade um die Gaublaus und Blaugraus, die sich beruhigend auf 20 x 25 Zentimeter vor dem Auftraggeber ausbreiten und die ihm wesentlich für das Motiv zu sein scheinen. Farben will der Künstler nicht. Séte 2Farben behindern die Abstraktion. Sie sind der hautsächliche Anker der Gegenständlichkeit. Sie ketten das Foto an die Realität, die Abbildung an das Abgebildete. Der Auftraggeber möge sich bitte die 15 Bilder der Gesamtkomposition als eine Abfolge von Farbfotos vorstellen. Das reduziere das ganze Werk zu einem aufgereiten Diavortrag. Interpretationsspielräume, Deutungsmöglichkeiten, Assoziationen, Bezugnahmen, Mehrschichtigkeiten, all das ginge verloren. Die Gegenständlichkeit der Objekte, das ist ein Meer, das ist ein Himmel, das ist ein von Menschen aufgeschütteter Damm, diese Gegenständlichkeit dominierte alles. Das sieht der Auftraggeber betroffen ein.

Paul Valérys GrabAuf dem Friedhof von Sète, einer der wenigen, auf dem Gräber Meerblick haben, hat Paul Valéry als einziger eine Bank, so wie Hölderlin auf seinem Friedhof in Tübingen als einziger eine Bank hat. Vor diesem wie jenem Grab darf man sich setzen.

O récompense après une pensée
Qu’un long regard sur le calme de dieux.

steht auf dem Grab: Der Lohn eines Gedankens ist wie ein langer Blick auf die Ruhe der Götter. Lange sitzen der Künstler und sein Auftraggeber bei Paul, so lange, bis aus dem gehämmerten Meer ein wie Krepppapier gekräuseltes geworden ist.