Das verlorene Motiv

Das verschwundene MotivMachtlos ist die Fotografie, wenn die Dinge in der Wirklichkeit verloren gehen. Am Strand von Saintes Maries de la Mer am Südende der Camargue soll ein Bunker im Meer liegen. Ursprünglich direkt auf den Strand gebaut ist er ins Meer gerutscht in den vergangenen Jahrzehnten, in denen das Meer das Land abtrug. Jetzt liegt er mitten im Wasser. Das ist das erste Motiv. Der Künstler hat es im Vorfeld ausführlich beschrieben. Nur: der Bunker ist nicht mehr da. Hinter dem Strand, in den Sumpfwiesen liegen sie noch, die eingesunkenen Überbleibsel vermutlich deutscher Befestigungsanlangen aus dem 2. Weltkrieg. Aber der im Meer ist verschwunden. Immer wieder fahren der Künstler und sein Auftraggeber den Strand an, von Saintes-Maries-de-la-Mer aus nach Westen bis zur Mündung der kleinen Rhône: nichts.

Die Beschreibungen des Künstlers haben im Auftraggeber ein klares Bild des geplanten Bildes entstehen lassen. Der Himmel, das Meer und der Bunker sind reduziert auf abstrakte geometrische Formen: eine Fläche und ein mehreckiger Körper. Der einheitliche graue Hintergrund, ob mehr Ebene oder ob mehr Fläche das darf nach Ansicht der Auftraggebers offen bleiben, ist im unteren Teil heller, weil dort an manchen Stellen von weißlichen Schlieren durchzogen, im oberen Bereich dunkler, grauer in grauer. Im unteren Drittel, nach links aus der Mitte gerückt, ein tiefschwarzes, teilweise regelmäßig rechteckiges, oben rechts aber unregelmäßiges Mehreck. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es sich um einen Körper handelt, einen Quader, der nach vorne oder nach unten – je nach dem noch vorhandenen Ausmaß der Tiefenillusion – in die graue Fläche abgesunken ist, und zwar mit dem vorderen oder anders gesagt: unteren linken Ende mehr als mit dem unteren rechten. Daher die Vieleckigkeit. Man muss einräumen: Seine Vorstellung ist sehr genau, Spielraum gibt es da kaum. Nicht einen Moment fragt er sich, inwieweit seine Vorstellung mit dem Motiv übereinstimmt, das der Künstler vor Augen hat. Für ihn ist seine Vorstellung das Motiv.

Nachdem der Auftraggeber die Örtlichkeiten gesehen hat, wird er unsicher. Er fürchtet, dass das tatsächliche Bild mit demjenigen, das er im Kopf hat, kaum etwas zu tun gehabt hätte. Er zweifelt sogar, ob es überhaupt ähnlich gewesen wäre. Er bedauert daher nicht sehr, dass es nicht zustande kommen wird. Er weiß ja, wie es ausgesehen hätte. Und so gefiel es ihm recht gut. Unverkennbar hat der Künstler eine ebenso deutliche Vorstellung des geplanten Bildes. Unbeantwortbar bleibt allerdings, ob die beiden Vorstellungen übereinstimmen, ob sie überhaupt ähnlich sind.