Sète

Die Mole von Séte soll das erste Bild werden. Die Kamera in einem kantigen, fast quadratischen Holzkoffer, Stativ, Kassetten bestückt mit Fotopapier von 20 x 25 Zentimetern, alles ist aufzubauen bevor die Sonne durchbricht, morgens um halb acht. Vorher stand sie schon kreisrund und rotorange über dem Horizont und verschwand dann Stück für Stück in einer Wolkendecke. Das verminderte Licht ist günstig. Vielleicht lässt sich die für das Auge gut erkennbar Horizontlinie, Séte 1die Himmel und Wasser trennt, zum Verschwinden bringen. Umso mehr als dasselbe Bild noch einmal mit einem Blaufilter belichtet wird. Außerdem werden eine lange Belichtungszeit und lichtunempfindliches Fotopapier gewählt. Das wird die Bewegung des Meeres einfrieren. Entstehen soll eine einheitliche grau melierte Fläche. In diese Fläche ragt schwarz und von würfelförmigen Wellenbrecher zerklüftet die Mole von Séte, die dann keine Mole mehr ist, sondern ein strukturiertes, kantiges Objekt, der Kontrast in der Ruhe der grauen Fläche. So der Plan, das ist die Vorstellung. Ob es so werden wird, ist noch ungewiss. Denn noch bilden sich für dem Auftraggeber unter dem Kameratuch das Blaugrau des Meeres und das Graublau des Himmels, das Gelbblau der Steine und das Grün der Leuchtboje deutlich auf der Fotoplatte ab, umgekehrt zwar, auf dem Kopf stehend, aber dennoch klar unterscheidbar. Ob und wie sich diese Abbildung in die beschreibene Vorstellung verwandeln lässt, muss dem handwerklichen Können des Künstlers überlassen werden. Dem Auftraggeber ist das unverständlich. Gewiss ist nur eines: die Farben werden verschwinden. Der Künstler besteht auf Schwarzweiß. Da lässt er nicht mit sich diskutieren. Schade um die Gaublaus und Blaugraus, die sich beruhigend auf 20 x 25 Zentimeter vor dem Auftraggeber ausbreiten und die ihm wesentlich für das Motiv zu sein scheinen. Farben will der Künstler nicht. Séte 2Farben behindern die Abstraktion. Sie sind der hautsächliche Anker der Gegenständlichkeit. Sie ketten das Foto an die Realität, die Abbildung an das Abgebildete. Der Auftraggeber möge sich bitte die 15 Bilder der Gesamtkomposition als eine Abfolge von Farbfotos vorstellen. Das reduziere das ganze Werk zu einem aufgereiten Diavortrag. Interpretationsspielräume, Deutungsmöglichkeiten, Assoziationen, Bezugnahmen, Mehrschichtigkeiten, all das ginge verloren. Die Gegenständlichkeit der Objekte, das ist ein Meer, das ist ein Himmel, das ist ein von Menschen aufgeschütteter Damm, diese Gegenständlichkeit dominierte alles. Das sieht der Auftraggeber betroffen ein.

Paul Valérys GrabAuf dem Friedhof von Sète, einer der wenigen, auf dem Gräber Meerblick haben, hat Paul Valéry als einziger eine Bank, so wie Hölderlin auf seinem Friedhof in Tübingen als einziger eine Bank hat. Vor diesem wie jenem Grab darf man sich setzen.

O récompense après une pensée
Qu’un long regard sur le calme de dieux.

steht auf dem Grab: Der Lohn eines Gedankens ist wie ein langer Blick auf die Ruhe der Götter. Lange sitzen der Künstler und sein Auftraggeber bei Paul, so lange, bis aus dem gehämmerten Meer ein wie Krepppapier gekräuseltes geworden ist.

2 Gedanken zu “Sète

  1. Danke, Herr Geissler, für diesen stimmungsvollen Eintrag. Und dass ich jetzt wieder weiß, wo ich diesen Satz “O recompense ..” in Sète gefunden hatte. Alles Gute für Ihr Ransmeyer-Projekt. BN

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